« vorheriger Artikel | Home | nächster Artikel »

Helmut Seel / Professionalisierung des Lehrers und Verrechtlichung der Schule - ein Widerspruch ?

von Helmut Seel
Artikel drucken

Die Qualität eines Schulsystems hängt von der Qualität seiner Lehrer ab. Maßnahmen zur Verbesserung der beruflichen Qualifikation der Lehrer sind daher mit Recht in Vorbereitung oder im Gange. Wobei manches Reformvorhaben wie die Einführung der Pädagogischen Hochschulen noch missglückt erscheint. Ziel der Reform der Lehrerbildung ist die Professionalisierung der Arbeit des Lehrers. Zum Thema Professionalisierung gibt es zahlreiche Studien. Als wesentliche Kriterien der Ausübung einer Arbeit als Profession gelten: Der Handelnde erbringt eine klientenzentrierte Dienstleistung auf wissenschaftlicher Grundlage. - Der Handelnde ist auf Wahrnahme der Interessen der Klienten (Patienten) durch das Berufsethos verpflichtet. - Die Sicherung der Handlungsqualität erfolgt in erster Linie durch kollegiale Kontrolle und durch die Nachfrage nach der angebotenen Dienstleistung. Solches professionelles Agieren erfolgt vor allem in den „freien Berufen": Architekt, Arzt, Apotheker, Rechtsanwalt, Notar.

Der Lehrer erbringt die klientenzentrierte Dienstleistung des Erziehens (mit der Sonderform des Unterrichtens) als Beitrag zum Lernprozessbündel, durch welches der/die hilflos in die Gesellschaft Geborene sich zum vollwertigen erwachsenen Mitglied der Gesellschaft heranbilden soll. Auf Grund der Individualität des zu Erziehenden (der korrekte Terminus „Zögling" hat leider einen schlechten Beigeschmack) und der Differenziertheit der gesellschaftlichen Situationen hat der professionell agierende Erzieher (Lehrer) eine situativ stimmige Theorie des angemessenen pädagogischen Handelns auf Grund seiner Kenntnis wissenschaftlicher Theorien und der reflektierten Erfahrungen früheren Handelns eigenverantwortlich zu erfinden. Dieses pädagogische (didaktische/Inhaltsfragen betreffend, methodische/Verfahrensfragen betreffend) Entscheiden und Handeln des Lehrers wird im Schulunterrichtsgesetz (§ 17) festgelegt: „Der Lehrer hat in eigenständiger und verantwortlicher Unterrichts- und Erziehungsarbeit die Aufgabe der österreichischen Schule zu erfüllen".

Immer dann, wenn professionelle Tätigkeit in gesellschaftlichen Institutionen wie zum Beispiel in der Schule ausgeübt wird, hat der professionell Handelnde zwei Interessen wahrzunehmen: die des Zöglings und die des Schulträgers. In der Schule als staatlicher Einrichtung werden dem Lehrer durch Gesetze, Verordnungen, Erlässe und Weisungen der Dienstvorgesetzten die Interessen der Gesellschaft an der Institution Schule vorgeschrieben. Der Lehrer ist Bediensteter des Staates, seine Tätigkeit in der verrechtlichen Schule wird als „Verwaltungshandeln" verstanden, das an das Legalitätsprinzip laut Artikel 18 des Staatsgrundgesetzes gebunden ist. Die generelle Weisungsgebundenheit ist im Dienstrecht des Lehrers festgelegt, Ausnahmen sind nicht vorgesehen. Die oben zitierten Festlegungen im Schulunterrichtsgesetz können daher nach Ansicht der Experten des Schulrechts nicht als einklagbares Recht des Lehrers verstanden werden. Sie seien vielmehr als Appell an die vorgesetzten Instanzen des Lehrers zu verstehen, ihm entsprechende Spielräume zu gewähren.

Für das Handeln im Interesse des Zöglings braucht der Lehrer (Erzieher) jedoch gesicherte Räume für ein weisungsfreies eigenverantwortliches Urteilen, Entscheiden und Handeln: die „pädagogische Freiheit". Diese relative Autonomie des Lehrers wurde von der Reformpädagogik in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts begründet und gefordert. In der bildungstheoretischen Didaktik der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wurden diese Ideen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts solche Ideen realisiert. Das Konzept des Rahmenlehrplans und das Prinzip der Methodenfreiheit erhalten hier ihre Begründung.

In den „Didaktischen Gründsätzen" der Lehrpläne wird dies festgehalten: „Wahl und Anwendung der Methoden des Unterrichts sind dem Lehrer grundsätzlich freigestellt, sie sind schöpferische Leistungen, die von der vollen Verantwortung des Lehrers getragen werden" (Lehrpläne der allgemeinbildenden höheren Schule 1978). Bereits in den Lehrplänen der AHS im Jahr 1989 erhöht sich die Regelungsdichte. Die „Didaktischen Grundsätze" enthalten nun ausführliche Hinweise zur „Unterrichtsplanung und Unterrichtsrealisierung", die nur mehr durch die Anmerkung relativiert erscheinen, dass diese Hinweise „weder unmittelbar anzuwendende Anweisungen noch ein Beurteilungsraster für die Unterrichtsarbeit des Lehrers darstellen". Auch die Lehrpläne für die allgemeinbildenden höheren Schulen des Jahres 2000 enthalten den didaktischen Grundsatz der Methodenfreiheit nicht mehr ausdrücklich. Die inhaltliche Präzisierung erfolgt nun durch einen als verbindlich zu verstehenden Lernzielkatalog.

In den Volksschul- und Hauptschullehrplänen der Jahre 1972 und 1986 findet sich der didaktische Grundsatz der „Methodenfreiheit und Methodengerechtheit". Es heißt: „Innerhalb dieser (sc. von den anderen didaktischen Grundsätzen gezogenen ) Grenzen ist die Wahl und Anwendung der Methoden frei; sie beinhaltet eine schöpferische Leistung und eine verantwortungsvolle Aufgabe des Lehrers." Es ist auch zu lesen: „Innerhalb der vom Lehrplan gezogenen Grenzen ist die Auswahl und zeitliche Verteilung des Lehrstoffes und die Entscheidung für einen bestimmten Lehrgang dem pflichtgemäßen Ermessen des Lehrers anheimgestellt. Diese Entscheidung gibt dem Lehrer Freiheit, legt ihm aber in hohem Maß Verantwortung auf." Auch im Lehrerplan der Volksschule aus 2007 findet sich der didaktische Grundsatz „Entscheidungsfreiheit im Lehrplan - Methodenfreiheit und Methodengerechtheit". Und: „Der Rahmencharakter der Lehrpläne ermöglicht der Lehrerin bzw. dem Lehrer Entscheidungsfreiräume hinsichtlich der Auswahl und Gewichtung, der zeitlichen Verteilung, der Konkretisierung und Strukturierung der Lehrstoffe sowie hinsichtlich der Festlegung der Unterrichtsmethoden und -mittel nach verschiedenen didaktischen Grundsätzen."

Die fortschreitende Verrechtlichung der Schule bringt das Prinzip der Methodenfreiheit in Schwierigkeiten. Pädagogische Freiheit darf nur mehr als „Rest-Freiheit" existieren in dem Fall, dass allgemeine Vorschriften den Einzelfall nicht mehr ausreichend erfassen. Sogar diese „Rest-Freiheit" erscheint bedroht, wenn in Zukunft die Stellung des Schulleiters gegenüber seinem Lehrerteam im Interesse der Qualitätssicherung als Erfüllung von Leistungsstandards gestärkt wird. Das von einigen Reformern geforderte Recht des Schulleiters, die Lehrer für seine Schule unter diesem Gesichtspunkt auszuwählen und anzustellen und im Bedarfsfall zu entlassen, führt zwangsläufig zu einer Intensivierung des Weisungsrechts auch bei genuin pädagogischen Fragen und Problemen. Die Zeit, in der der Schulleiter als „primus inter pares" gesehen wurde, ja im Interesse einer Demokratisierung der Schule sogar von der Wahl des Schulleiters auf Zeit durch das Lehrerkollegium gesprochen wurde, ist offensichtlich ohne Rest vorbei.

In der Zeit der totalen Verrechtlichung der Schule ist der Schulleiter in erster Linie als „rechtskundiger Beamter" gefordert. Als ein allen Lehrern übergeordneter pädagogischer Sachverständiger ist er wohl weitgehend überfordert. Eine verfassungsrechtliche Absicherung des Handlungsspielraums des Lehrers als professioneller pädagogischer Experte („Pädagogische Freiheit") erscheint daher in einer Zeit besonders notwendig, in der die Reglementierung in der Schule voranschreitet. Angesichts anstehender Reformen in der Schulverwaltung und Schulaufsicht sollte man daher die in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geführte Diskussion wieder aufgreifen. In seinem 1993 für das BMfUKK erstellte Gutachten („Zur Autonomisierung der Schule - Staatstheoretische und verfassungsrechtliche Aspekte") stellt Th. Öhlinger fest, dass der Unterricht keine dem Staat vorbehaltene Tätigkeit sei und dass unter Bezugnahme auf Artikel 17 des Staatsgrundgesetzes „Unterrichtsfreiheit ein verfassungsrechtlich anerkannter Wert" sei. „Freiräume des Unterrichts - im Sinne pädagogischer Verantwortung und pädagogischer Freiheit des Lehrers - lassen sich von diesem Ansatz her auch aus rechtlicher Sicht durchaus positiv legitimieren" (Öhlinger 1993, 40).

Das Recht auf eine pädagogische/didaktische/methodische Freiheit des professionell agierenden Lehrers erscheint jedoch nur dann gerechtfertigt, wenn der Lehrer sein pädagogisches/didaktisches/methodisches Urteilen, Entscheiden und Handeln rechtfertigen und damit verantworten muss. Sein Berufsethos könnte in einem „Sokratischen Eid" (Hentig) zum Ausdruck kommen, der sein Handeln leitet. In einer Schule, die sich als Institution kooperativer professioneller Dienstleistung durch die Lehrer versteht, ist das Kontrollorgan dieser Leistungen das Kollegium der professionell kooperierenden pädagogischen Experten unter Beachtung der Interessen der Klientenvertreter (Eltern, Schüler). Es ist daher das Lehrerkollegium, dem die Kompetenz zur Aufnahme in das bzw. die Entlassung aus dem Lehrerteam zu übertragen ist und nicht dem Schulleiter. Würde man im Lehrer hingegen bloß ein Organ weisungsgebundenen Verwaltungshandelns sehen, wäre die Frage berechtigt, warum in die Professionalisierung des Lehrerberufs durch eine Reform der Lehrerbildung noch länger investiert werden sollte.