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Helmut Seel / Die Zukunft der berufsbildenden höheren Schulen angesichts der Steigerung der Akademikerquote

von Helmut Seel
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Geht man von der „Bologna"- Struktur des tertiären Sektors aus, zählt bereits der nach sechs Studiensemestern erreichbare Status des „Bachelors" zu den Akademikern, nicht erst der „Master" oder gar der Doktor (PhD). In Österreich wurde diese Studienstruktur seit dem Jahr 2000 schrittweise eingeführt. Wer davor nach der erfolgreichen Ablegung der ersten Diplomprüfung nach vier bis sechs Semestern die Universität oder Hochschule verließ, war einfach ein Studienabbrecher. Ein Akademiker war man erst als Magister nach vier bis fünf Studienjahren. In der Beurteilung der Akademikerquote in verschiedenen Staaten ist der zahlenmäßige Vorsprung der Staaten mit einer traditionellen „Bachelor"- Graduierung, wie dies im anglo-amerikanischen Kulturraum der Fall ist, zu beachten.

Wenn die OECD mit der Akademikerquote als Indikator operiert, hat sie wohl ein bestimmtes Qualifikationsniveau im Auge, das für die wirtschaftliche Leistung und Entwicklung einer Volkswirtschaft wichtig ist. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich bei der Beurteilung der Akademikerquote in Österreich allerdings ein Sachverhalt, der bisher kaum Beachtung gefunden hat. In keinem anderen Staat gibt es eine Schulform wie die österreichische berufsbildende höhere Schule. Ihr Abschluss führt über auf Grund ihrer fünfjährigen Dauer die Sekundarstufe (Reifeprüfung) hinaus.

In der Anpassung ihrer Abschlussprüfung an die Anerkennungsrichtlinien im Zugang zu den reglementierten Berufen in der EU (Richtlinie 95/43 EG) wurde erreicht, dass der BHS-Abschluss als den Bedingungen der „Zweiten allgemeinen Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise" (92/51/EWG aus 1992) entsprechend beurteilt wurde.

Die erste Richtlinie (89/48 EWG) hatte die Abschlüsse der Hochschulstudien von mindestens dreijähriger Dauer und mit akademischer Graduierung betroffen. Ihr folgt wohl die Generalisierung der Struktur des tertiären Sektors entsprechend der „Bologna"-Vereinbarung. In der zweiten Richtlinie werden zwei Abschlussformen unterschieden: Prüfungszeugnisse und Diplome. Prüfungszeugnisse bestätigen einen Berufsausbildungsabschluss auf Sekundarebene. Dazu zählen in Österreich der Abschluss der berufsbildenden mittleren Schulen und die Lehrabschlussprüfung. Diplome bescheinigen hingegen eine mindestens einjährige berufliche Ausbildung nach einem Sekundarabschluss mit Berechtigung zum Hochschulzugang (postsekundärer Sektor). In einer Novellierung des Schulorganisationsgesetzes wurde daher 1996 festgelegt, dass die berufsbildenden höheren Schulen einschließlich der höheren Schulen der Erzieherbildung mit einer „Reife- und Diplomprüfung" abschlossen werden.

Absolventen der berufsbildenden höheren Schulen nehmen in Österreich auf Grund ihrer anerkannten Qualifikation Positionen ein, die in anderen Staaten meist von den Akademikern der ersten Stufe eingenommen werden. Mit zunehmender Zahl von Absolventen dieser neu eingerichteten Studien im Hochschulsektor ist vielfach ein Verdrängungswettbewerb entstanden. Dieser wirkt sich bisher im ökonomischen Sektor der Wirtschaft am deutlichsten aus: Absolventen der Handelsakademien werden durch Wirtschaftsakademiker (Bakk. soc. oec.) ersetzt.

Auch im technischen Bereich der Wirtschaft ist dieser Vorgang in Gang gekommen. Hier ist vor allem die Einführung der Fachhochschulen wirksam geworden, welche einen Diplomingenieur-Abschluss in Studiengängen an, die sich im Vergleich zu den Studien an den Technischen Universitäten durch höhere Praxisorientierung auszeichnen..

Aus diesen Überlegungen können einige Lehren gezogen werden. Die erste wirkt beruhigend: Auch eine stagnierende oder nur langsam wachsende Akademikerquote bedeutet für die österreichische Wirtschaft noch keinen gravierenden Rückstand gegenüber anderen Staaten mit höheren Akademikerquoten. Eine zweite sollte stärker beunruhigen: Wenn im Zuge des weiteren Ausbaus der „Bologna"-Struktur im österreichischen Hochschulbereich die Zahl der Absolventen der ersten Akademikerstufe zunimmt, wird sich der Verdrängungswettbewerb zwischen ihnen und den BHS-Absolventen verschärfen. Dies muss dazu führen, dass die Bedeutung der berufsbildenden höheren Schulen im österreichischen Schulsystem schwindet und dieser Bereich daher im Hinblick auf Reformen in der Schulorganisation zu überdenken ist.

Bereits bei der Einführung der Fachhochschulen anfangs der 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts wurde im Hinblick auf die höheren technischen Lehranstalten diskutiert, ob nicht das fünfte Schuljahr mit seinen berufstheoretischen und berufspraktischen Ausbildungsteilen in die Fachhochschulstudiengänge verlegt werden sollte. Im Schulsystem wäre eine vierklassige höhere technische Lehranstalt verblieben, die anders als die mittleren höheren Schulen auf Grund höherer allgemeinbildender und fachtheoretischer Anforderungen mit einer Reifeprüfung abgeschlossen werden sollte. Ähnliches ließe sich auch für den Bereich der kaufmännischen und wirtschaftlichen berufsbildenden höheren Schulen denken.

Im Bereich der Sozialberufe ist die Entwicklung schon früher in Gang gekommen und daher bereits weiter fortgeschritten. Bereits 1975 wurden die „Lehranstalten für gehobene Sozialberufe" in „Akademien für Sozialarbeit" umgewandelt. In den Jahren ab 2001 wurden diese Akademien sukzessive in Fachhochschulstudiengänge umgewandelt. Dort haben allerdings die jeweils vorher bestehenden Ausbildungseinrichtungen zu bestehen aufgehört. Analoges gilt für die Pflichtschullehrerausbildung, deren Hochschulstufe jedoch nicht einmal Fachhochschulstatus erreicht hat.

Im Bereich der Krankenpflege scheint man die Ausbildungsstufe einer berufsbildenden höheren Schule, wie sie bereits in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts diskutiert wurde, in der Entwicklung zu überspringen. Pflegewissenschaftliche und gesundheitswissenschaftliche Studiengänge wurden an Universitäten und Fachhochschulen eingerichtet. Ungelöst scheint derzeit jedoch noch der Übergang in solche tertiäre Ausbildungen von der vorhergehenden Ausbildungsstufe der Krankenpflegeschulen für diplomiertes Pflegepersonal zu sein. Deren Abschluss kann ja vergleichsweise nur das Abschlussniveau der berufsbildenden mittleren Schulen erreichen.

Angesichts derartiger Überlegungen sollte aus den Befunden der OECD in erster Linie der Schluss gezogen werden, dass die Steigerung der Maturantenquote in Österreich Priorität hat. Dies wird schulorganisatorische Maßnahmen zur noch besseren Erfassungen aller befähigten Kinder durch die Einführung einer allgemeinen Mittelschule (Gesamtschule im Bereich der Sekundarstufe I) ebenso erfordern wie Reformen der Didaktik und Methodik auf allen Schulstufen und in allen Schularten, um den Gesichtspunkt der individuellen Förderung der befähigten Kinder aus allen Gesellschaftsschichten angemessen (verlustvermeidend durch die Einrichtung ganztägiger Schulformen) Rechnung zu tragen.