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Klaus Satzke / Schulpolitik - zwischen Irrgängern und Laienspielern

von Klaus Satzke
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„Die Gesamtschule, in der alle in einen Topf geschmissen werden, kann ich mir nicht vorstellen", erklärte Vizekanzler und Finanzminister Josef Pröll gegenüber mehreren Bundesländer-Zeitungen (Donnerstag-Ausgaben am 22.7.2010).

Landeshauptmann Erwin Pröll hingegen spricht sich nur 3 Tage später in ÖSTERREICH v. 25.7.2010 für eine gemeinsame Schule der 10- bis 12-Jährigen aus: "Es ist sinnvoll, die Bildungsentscheidung nicht schon mit zehn, sondern erst mit zwölf Jahren zu treffen, weil sich bis zu einem Alter von zwölf oder 13 Jahren einiges geklärt hat."

Außerdem begrüßt Erwin Pröll den von Bundeskanzler Werner Faymann im Interview mit der Tageszeitung ÖSTERREICH (Sonntagsausgabe) angekündigten großen Schulreform-Gipfel für Herbst, bei dem der Fall des 10-Prozent-Limits für die Neue Mittelschule endgültig fixiert werden soll. Lt. Presse vom 27.7.2010 weiß man allerdings bis dato weder im Unterrichtsressort noch im Kanzleramt etwas von einem Termin für einen Schulgipfel.

ÖAAB - Obmann und Außenminister Michael Spindelegger wiederum kann sich gleich eine generelle Einführung der Neuen Mittelschule - allerdings beschränkt auf die Hauptschulen - vorstellen. „Das ist absolut machbar. Die Ausbildung der Kinder duldet keinen Aufschub. Das Gymnasium bleibt daneben bestehen!" (Zitat Kurier, 25.7.2010). Und wo liegen seine Vorbehalte gegenüber dem Schulversuch Neue Mittelschule? Er sieht Probleme, „ ...weil die Neue Mittelschule derzeit kein durchgängiges pädagogisches Konzept hat. Sie ist ein Fleckerlteppich an Schulversuchen."

Wo er Recht hat, hat er Recht, der seit einem Finnland-Besuch auf bildungspolitischen Pfaden wandelnde Außenminister und ÖAAB-Obmann.
Die Erfolge der Schulversuche zur Neuen Mittelschule fußen derzeit auf 2 Beinen: auf dem beachtlichen Engagement eines beträchtlichen Teiles der Versuchsschullehrer und auf einem erfolgreichen Werbekonzept. Darüber hinaus aber sind mehr Fragen offen, als man von einem Erfolgsmodell erwarten sollte. Bei dem in Aussicht genommenen heißen Schulreformgipfel (wenn er denn stattfinden sollte) im Herbst könnten folgende Themen - bleiben sie weiter unbeantwortet - zu einer Belastung werden:

- Die rechtlichen Grundlagen des Schulversuches sind Teil eines bildungspolitischen Betriebsunfalls, bei dem etwas ganz anderes herausgekommen ist, als ursprünglich geplant war. Statt eines regionalen Flächenversuches zur Gesamtschule entstand ein Schulversuch an Hauptschulen unter paralleler Führung von AHS - Standorten. Hat der Schulversuch mit dieser Hypothek dennoch eine klare Entwicklungsperspektive und gibt es überhaupt Szenarien für eine Umsetzung ins Regelschulwesen?
- Den Schulversuchen liegt ein konventionelles Versuchsdesign zugrunde, das eine Abfolge von „Erprobung unter Laborbedingungen + Evaluation + Übertragung" vorsieht. Was scheinbar plausibel klingt, funktioniert aber unter den Gegebenheiten eines hohen schulischen Problemdruckes nicht mehr. Weil es um Menschen und deren Lebens- und Berufschancen geht (und wohl auch um Konkurrenz zwischen Schulen und Schularten), verlangen offenkundig erfolgreiche Versuchselemente rasch nach Umsetzung. Dem stehen dann Prozentgrenzen entgegen! Letztlich muss die Politik den Wünschen wohl nachgeben, aber niemand der Agierenden erkennt die Absurdität, dass eine sich seit Jahrzehnten blockierte Schulpolitik im Parlament antreten muss, muss um ein paar Schulversuche mehr anstelle einer echten Reform zu beschließen.
- Die Schulversuche in ihrer derzeitigen Form sind tatsächlich ein Fleckerlteppich aus unterschiedlichen Konzeptvorstellungen, die sich in mancher Hinsicht widersprechen. Wenn Lösungen für Österreich gefragt sind, muss es doch irritieren, wenn es sich teilweise um „Landeshauptmann-Versuche" (Modell Pröll, Modell Pühringer ...) handelt. Über welchen Schulversuch Mittelschule soll im Herbst gesprochen werden? Wann wird darüber gesprochen, was denn eigentlich im Detail evaluiert werden soll, was sich einer seriösen Evaluierung entzieht und wer sich an die Ergebnisse der Evaluation gebunden fühlen wird?
- Sowohl im sehr, sehr allgemein gehaltenen offiziellen Rahmen für die Mittelschulversuche als auch in den Projektbeschreibungen der einzelnen Bundesländer wird um das zentrale Thema der Individualisierung und Differenzierung „herumgeeiert". Grundsätzlich ist vorgesehen, dass es keine äußere Leistungsdifferenzierung gibt (also offenbar keine Leistungsgruppen), andererseits gibt es aber Kern- und Erweiterungskurse bzw. Leistungskurse „zur Verwirklichung eines hohen Lernanspruches". Wie treffscharf sind die verwendeten Begriffe? Wozu die apodiktischen Festlegungen im Versuchsrahmen? Sind kürzer oder auch länger geführte homogenere Lerngruppen (Mehr oder weniger heterogen sind sie ohnehin immer!) wirklich des Teufels? Was ist wirklich gemeint und wer kann das ohne spezielle Kenntnis von Schulreformchinesisch verstehen?
- Die Differenzierungsfrage kann jedenfalls im sensiblen Bereich der Sekundarstufe I nicht auf eine Frage der Unterrichtsplanung und Unterrichtsorganisation im Lehrerteam reduziert werden. Es bedarf auch - bei allem Bekenntnis zu hoher Flexibilität - einer Offenlegung gegenüber Eltern und der Öffentlichkeit, weil es in letzter Konsequenz um Berechtigungen (Anspruch auf gezielte Förderung in Kleingruppen) und wohl auch um Selektion (Vorbereitung auf den Übertritt in Oberstufenformen bzw. Zuerkennung eines prüfungsfreien Übertritts) geht.
- Die Berechtigungsfrage (unterrichtet wird nach den Lehrplänen der AHS, d. h. positiver Abschluss der 8. Schulstufe = prüfungsfreier Übertritt in die Oberstufe) steht derzeit in einem aufklärungsbedürftigen Verhältnis zu den Bildungsstandards: Es gilt die Vermutung, dass jene Schüler, die die Bildungsstandards im Wesentlichen erfüllen, auch positiv abschließen. Das wirft aber die Frage auf, ob die Erfüllung der Standards auch tatsächlich ausreichend ist für den Übertritt in die Oberstufenformen.
- Schüler, bei denen ein negativer Abschluss droht, können in einzelnen Gegenständen auf Hauptschulniveau abschließen. Aber: Wo ist dieses Niveau definiert? Gelten die Leistungsgruppen-Niveaus? Ist das eine Perspektive für ein seriöses Gesamtschulkonzept? Seriöser wäre es vielleicht, von A- bzw. B-Level - Abschlüssen der Sekundarstufe I zu sprechen. Ist das gemeint? Ist das ausreichend diskutiert? Wenn nein, dann wäre es hoch an der Zeit, diese Diskussion zu beginnen!
- Und schließlich nochmals die schon eingangs gestellte Frage: Hat der Schulversuch Neue Mittelschule eine klare Perspektive für die Übertragung in das Regelschulwesen? Mit anderen Worten: Wie verträgt sich das Modell Neue Mittelschule mit den extrem unterschiedlichen Standortbedingungen, die in der Sekundarstufe bestehen? Mit großer Wahrscheinlichkeit werden die Ergebnisse der Bildungsstandard-Untersuchungen zeigen, dass es nicht wenige Hauptschulstandorte gibt, deren Ergebnisse klar innerhalb der Bandbreite der allgemeinbildenden höheren Schulen liegen. Hier sollte die Bildungspolitik grünes Licht geben für die Übertragung der NMS ins Regelschulwesen! Es gibt keinen Grund, den SchülerInnen die besseren Bildungschancen der höheren Schulen vorzuenthalten!
Aber wie sieht es mit jenen Standorten aus, die deutlich außerhalb der Bandbreite liegen? Wird es dort eine Vielzahl von fachbezogenen Abstufungen auf Hauptschul-Level geben oder wird im Interesse der Berufs- und Lebenschancen der Absolventen gemogelt? Kann das überhaupt eine Perspektive für ein stimmiges Gesamtschulkonzept sein? Oder gibt es gezielte Förderung und ein entsprechendes Monitoring, um in einem mehrjährigen Prozess die Standard-Bandbreite zu erreichen? Letzteres wäre wohl der richtige Weg, aber wo finden sich entsprechende Hinweise in den Projektbeschreibungen für die NMS?