In memoriam: Hauptschule 1927 – 2012
von Helmut SeelArtikel drucken
„Nur mehr vier Hauptschulen in der Steiermark im Schuljahr 2014/2015 titelte die „Kleine Zeitung“ vor einigen Wochen. Die Formulierung lässt zwei Interpretationen zu: Erfolgsmeldung oder Ausdruck des Bedauerns hinsichtlich der Einführung der „Neuen Mittelschule“? Einige Tage vorher hat der Präsident der Wirtschaftskammer Leitl im „Standard“-Gespräch festgestellt, er könne sich in Österreich im Mittelstufenbereich eine Gesamtschule mit wirksamer Leistungsdifferenzierung durchaus vorstellen. Die Hauptschule hätte ihm das geboten!
Im Nachruf ist eine Namensgeschichte berechtigt. Der Begriff „Mittelschule“ taucht im österreichischen Schulsystem 1848 auf und bezeichnete die Schultypen Gymnasium und Realschule, die „in der Mitte“ zwischen Volksschule und Hochschule (Universität) stehen. Sie „vermitteln“ auch den Zugang zur Hochschule durch den Abschluss mit der Matura. Die „Hauptschule“ wurde 1927 geschaffen (Hauptschulgesetz 1927), als Schule für den „Hauptteil“ der Schüler und Schülerinnen vom zehnten bis zum vierzehnten Lebensjahr neben den wenigen, welche die „Mittelschulen“ (Mittelschulgesetz 1927), zu denen das Realgymnasium und die Frauenoberschulen gekommen waren, besuchten. Der Name „Hauptschule“ drückte aber auch eine Reform aus: Bürgerschule und Oberstufe der Volksschule wurden in ihr zusammengefasst. Die Hauptschule führte zur Leistungsdifferenzierung in zwei Klassenzüge. Aus dem I. Klassenzug war mit gutem Gesamterfolg der prüfungsfreie Übertritt in die Mittelschule möglich. Die Schulgesetze des Jahres 1927 stellten einen schulpolitischen Kompromiss dar: In Wien waren von 1920 bis 1927 erfolgreiche Schulversuche mit einer „Allgemeinen Mittelschule“ gelaufen, einem Gesamtschulmodell, in welchem auch die traditionellen Mittelschulen aufgehoben waren. In der Hauptschule erhielten die Sozialdemokraten ihre potenzielle Gesamtschule, die Christlich-Sozialen konnten den Bestand der traditionellen Mittelschulen sichern.
Dieses System der Schulorganisation hatte, abgesehen von einer kurzen Unterbrechung im autoritären Ständestaat 1934 -1938, bis 1962 Bestand. Im Schulorganisationsgesetz 1962 wurde ein Status-Begriff ins Spiel gebracht: die „Mittelschulen“ wurden zu allgemeinbildenden „höheren“ Schulen (AHS). Nach Schulversuchen (1971 – 1983) mit einer Integrierten Gesamtschule wurde deren Organisationsstruktur 1983 auf die Hauptschulen übertragen. Die neue Hauptschule integrierte in den Stammklassen die zwei Klassenzüge, differenzierte aber die Schülerinnen und Schüler in Deutsch, Mathematik und Fremdsprache in drei Leistungsniveaus in Form von Leistungsgruppen. Ein prüfungsfreier Übertritt in die höheren Oberstufenschulen wurde den Absolventen der I. (oberen) Leistungsgruppe bzw. Schülern der II. (mittleren) Leistungsgruppe mindestens mit der Beurteilung „Gut“ in den differenzierten Fächern zugesprochen. Die Anzahl der Leistungsgruppen war – ausgehend vom Modell der Hauptschule mit zwei Stammklassen und drei Leistungsgruppen – jeweils um eine höher als die Zahl der parallelen Stammklassen. In Hauptschulen mit nur einer Stammklasse mussten daher in einer der Leistungsgruppen Schülerinnen und Schüler von zwei Niveaustufen in innerer Differenzierung zusammengefasst werden.
Die allgemeinbildende höhere Schule (AHS) erwies sich in der Folge als sehr attraktiv. In ihrem Sog entwickelte sich im städtischen Bereich und in seinem Umfeld die „Haupt“-Schule zur „Rest“-Schule, die nur mehr rd. 20 bis 30 % der Schüler und Schülerinnen der Altersstufe besuchen. In ländlichen Regionen blieb die Hauptschule die „Haupt“-Schule.
Die Neue Mittelschule enthält im Namen ein attraktives Versprechen: Als „Mittelschule“ erinnert sie an die „alten Mittelschulen“ (Gymnasium, Realschule, Realgymnasium), auch wenn diese inzwischen zu „höheren“ Schulen geworden sind. Unterrichtsministerin Dr. Schmied konnte 2008 nur einen Schulversuch mit der Neuen Mittelschule durchsetzen (§ 8a SchOG). Mit einer vergleichenden Evaluation wurde ein Team der Universität Salzburg (Leitung Prof. F. Eder) beauftragt. Nach einem Deal mit der ÖVP, welcher der Weiterbestand der Unterstufe der höheren Schulen zugesichert wurde, wurde der Schulversuch und damit die Evaluation abgebrochen. 2012 wurde die Neue Mittelschule per Gesetzesänderung an Stelle der Hauptschule eingeführt. und zwar ohne Rücksichtnahme auf die verschiedenen Versuchsmodelle in den einzelnen Bundesländern.
Was hat sich gegenüber der Hauptschule verändert? Die Integration wurde komplettiert, die Leistungsniveau-Gruppen wurden abgeschafft. An ihre Stelle trat das Team Teaching in einem zeitweiligen Zweilehrersystem. Entsprechend ihren Leistungen wird den Schülern und Schülerinnen in Deutsch, Mathematik und Fremdsprache das Erreichen einer grundlegenden bzw. einer vertieften Allgemeinbildung zuerkannt. Mit der vertieften Allgemeinbildung ist der prüfungsfreie Übertritt in die höheren Schulen der Oberstufe möglich.
Die Jubelmeldungen über den Erfolg der neuen Schultype, welche mehr Schülern und Schülerinnen die Übertrittsberechtigung in die höheren Schulen vermittelte, sind – vor allem im Lichte der Ergebnisse in den Bildungsstandard-Tests - mit Vorsicht zu betrachten:
- Die Beurteilungsdifferenzierung wird von drei auf zwei Ebenen reduziert.
- Die angemessene Leistungsförderung und die sichere Leistungsbeurteilung sind in den leistungsheterogenen Klassen auch im Zweilehrersystem schwieriger, und in den häufigeren Zweifelsfällen wird – pädagogisch durchaus verständlich – zu Gunsten der Schüler entschieden.
Die Folgen dieser Veränderungen sind vor allem in den berufsbildenden höheren Schulen zu beobachten. Die Lehrer klagen darüber, dass die Leistungsfähigkeit und vor allem der Leistungswille der Absolventen der Neuen Mittelschule deutlich schlechter seien als bei den Absolventen der leistungsdifferenzierten Hauptschule. Eine Evaluation der Neuen Mittelschule fehlt jedoch bis heute. ÜVP Klubchef Lopatka hat eine solche erst kürzlich urgiert.
In diesem Zusammenhang zeugten die Einsparungsvorhaben der neuen Unterrichtsministerin Heinisch-Hosek von wenig Verständnis für diese problematische Realität, wenn sie Stunden des Zweitlehrereinsatzes kürzen und die Klassenschülerhöchstzahl 25 für die 9. Schulpflichtstufe in den höheren Schulen streichen wollte.
Die Schulentwicklung wird weiter gehen. So könnte man eventuell in einer erneuerten Neuen Mittelschule wenigstens in den dritten und vierten Klassen eine äußere Leistungsniveau-Differenzierung durch Leistungsgruppen wieder in Betracht ziehen oder – der Lehrplangestaltung entsprechend – in einem Drittel der Unterrichtszeit eine Differenzierung in Erweiterungs- bzw. Übungsgruppen einrichten („Wiener“ Modell). Wirtschaftskammerpräsident Leitl hätte dann seine leistungsdifferenzierte Gesamtschule und könnte diese der ÖVP schmackhaft machen. Vielleicht ließe sich so das Ziel der Neuen Mittelschule erreichen, nämlich eine Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen, eine Allgemeine Mittelschule zu sein.