Über die Zukunft der Mittelstufe im österreichischen Schulsystem
von Helmut SeelArtikel drucken
Zunächst sind wohl einige allgemeine schultheoretische Überlegungen angebracht, ist doch nicht einheitlich geklärt, was unter „Mittelstufe“ zu verstehen ist. Es erscheint selbstverständlich, dass Schulsysteme moderner Staaten in Grundstufe, Mittelstufe und Oberstufe gegliedert werden (vgl. ISCED der Unesco: Level 1 Primarstufe; Level 2 Sekundarstufe I: Level 3 Sekundarstufe II). Die Schulpflicht umfasst meist die Primarstufe und die Sekundarstufe I und reicht in der Regel bis zum 16. Lebensjahr, je nach Beginn der Schulpflicht 9 oder 10 Schuljahre umfassend. Der von der OECD eingerichtete PISA-Test, welcher die für die Arbeitswelt relevanten Bereiche Lesefähigkeit sowie mathematisches und naturwissenschaftliches Verständnis prüft, wird daher bei den Sechzehnjährigen durchgeführt.
Dieser Gliederung trägt die Schulorganisation in verschiedenen Varianten Rechnung. In vielen Staaten besteht eine eigene Mittelstufenschule (z. B. Scuola Media in Italien). In den skandinavischen Staaten umfasst die neunstufige Grundschule die Primarstufe und die Sekundarstufe I. In Österreich ist die Situation schwierig, da man 1962 bei der Einführung des 9. Pflichtschuljahrs die traditionelle Schulorganisation nicht veränderte (Übertrittsebene von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II nach 8 Schuljahren). Da der Eintritt in betriebliche Lehre in Verbindung mit der Berufsschule aus arbeitsrechtlichen Gründen erst nach Absolvierung der Schulpflicht möglich ist, musste eine „Überbrückungsschule“ eingeführt werden: der Polytechnische Lehrgang. Anders als in den meisten anderen Staaten endet daher die Schulpflicht mit der 9. Schulstufe in Österreich im Oberstufenbereich, der Übergang von der Sekundarstufe I in die Sekundarstufe II erfolgt nach der 8. Schulstufe.
Den einzelnen Schulsystemstufen sind unterschiedliche Ziele und Aufgaben zugeordnet. Die Primarstufe (Volksschule) hat „eine für alle Schüler gemeinsame Elementarbildung ... zu vermitteln“ (SchOG § 9). Das Leitprinzip ist die Integration; alle Schüler sind zu den gleichen Lehrzielen zu führen, unterschiedliche Fördermaßnahmen haben dies abzusichern. Die Realität sieht allerdings anders aus. Wegen der Schultypendifferenzierung in Bereich der Sekundarstufe I steht die Selektion der Befähigten und ihre spezielle Unterstützung im Vordergrund.
Die psychologische Situation der Schülerinnen und Schüler (Pubertät) im Mittelstufenalter, ihre Fortschritte in der Fähigkeit im Denken und die Entstehung stabilerer und realistischerer Interessen erfordern eine entsprechende schulische Konzeption. Die Umwelt und Mitwelt wird nun differenzierter wahrgenommen, was die Grundlage der Entwicklung der Unterrichtsfächer darstellt. Unterschiedliche Betrachtungs- und Vorgangsweisen zum Wissens- und Könnensgewinn sind zu beachten. „Kunden“ als Grundlage einer Allgemeinbildung im Sinne von Urteils-, Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit in gesellschaftlichen und persönlichen Problemlagen entstehen: Gemeinschaftskunde, Erdkunde, Lebenskunde, Vergangenheitskunde, Naturkunde etc. ebenso wie „Künste“ der Gestaltung in verschiedenen Ausdrucksfelder (Sprache, Zahl, Bild, Ton und Bewegung). Bei der Benennung der Unterrichtsgegenstände werden allerdings teilweise die im Hintergrund stehenden Wissenschaften verwendet. In der Bildungsaufgabe der Hauptschule kommt aber die Aufgabenstellung zum Ausdruck: „ die Hauptschule ... hat die Aufgabe ... eine grundlegende Allgemeinbildung zu vermitteln sowie den Schüler nach Interesse. Neigung, Begabung und Fähigkeit für das Berufsleben und zum Übertritt in mittlere oder in höhere Schulen vorzubereiten“ (SchOG § 15). Das hat Auswirkungen im Bereich der Didaktik: Für die Sach- und Kunstfächer gilt das thematisch-exemplarische Verfahren, während in der Muttersprache und Mathematik der systematisch-aufbauende Lehrgang aus der Grundschule weitergeführt wird, allmählich mit unterschiedlichen Anforderungen und Leistungen. Der systematisch-aufbauende Lehrgang in der Fremdsprache beginnt.
Die Sekundarstufe I hat gem. SchOG eine Selektions- und eine Integrationsaufgabe: nach der Schulleistung unterschiedliche Berechtigungen zum Wechsel in den differenzierten Oberstufenbereich zuzuordnen sowie alle Heranwachsenden zum Leben als Bürger einer demokratisch verfassten Gesellschaft vorzubereiten. Für die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler endet die Allgemeinbildung de facto mit dem Ende der Sekundarstufe I: die „grundlegende Bildung“ muss als Lebensgrundlage verstanden werden. Die angeführten Aufgaben konnte die leistungsdifferenzierende Hauptschule sicherlich besser leisten als die sie nun ersetzende Neue Mittelschule.
Schon oben wurde auf eine spezifische Problematik der Sekundarstufe I in Österreich hingewiesen: die Schultypendifferenzierung. Die Unterstufe der allgemeinbildenden höheren Schule steht bisher mit gleichem Lehrplan und überlappenden Leistungen (vgl. F. Eder im Bildungsbericht 2012 „Die Schule der 10 – 14-jährigen als Angelpunkt der Diskussion um Struktur und Qualität des Schulsystems“ sowie die Ergebnisse der Bildungsstandards-Tests) neben der Hauptschule und verfolgt auch ein gleiches Bildungsziel. Wenn im § 34 SchOG das Bildungsziel der AHS als „Vermittlung einer umfassenden und vertieften Allgemeinbildung“ beschrieben wird, so liegt dies in ihrem Oberstufenbereich mit vier weiteren Schuljahren begründet. Nur die Langform-Ideologie der AHS nimmt dies auch für die Unterstufe in Anspruch. Als das achtklassige Gymnasium 1849 gegründet wurde, wies man die unterschiedlichen Bildungsziele noch ausdrücklich auf: Unterstufe Allgemeinbildung, Oberstufe Studienvorbereitung. Der „zyklische Lehrplan“ lässt das noch heute erkennen: in den Realien werden die gleichen Inhalte unterschiedlich behandelt; in der Oberstufe gilt es, die Methodik und Systematik der Wissenschaften zu konstituieren. Die Schüler der Neuen Mittelschule nach den Unterschieden zwischen einer „grundlegenden“ und einer „vertieften“ Allgemeinbildung in Deutsch, Mathematik und Englisch zu differenzieren, kann daher nicht als sinnvoll angesehen werden.
Der Unterschied zwischen AHS-Unterstufe und Hauptschule ist vielmehr ein sozialer, die privilegierten Gesellschaftsschichten wollen ihre eigene exklusive Schule. Die leistungsmäßige Begründung kehrt sich um: Weil man außerschulisch in der Lage ist, Schülerinnen und Schüler mehr zu unterstützen („Nachhilfe“), weisen AHS-Schüler allmählich auch bessere Schulleistungen auf. Für die Neue Mittelschule wird dieser Unterschied noch stärker gelten.
Leider ist es nicht gelungen, in der reformierten Lehrerbildung einer dreistufigen Schulsystemstruktur Rechnung zu tragen. Es wird keinen ausgewiesenen Mittelstufenlehrer geben, wie dies im Konzept der „PädagogInnenbildung NEU“ vorgesehen war: einheitliches Bachelorstudium zum Lehrer der Sekundarstufe I, Masterstudium entweder zur Vertiefung in diesem Bereich in 2 Semestern oder zur Erweiterung zum Lehramt der Sekundarstufe II in 4 Semestern). Die ÖVP stimmte einer solchen Planung aus Angst vor einer Gesamtschule für die Sekundarstufe I nicht zu. Es sollen daher in Zukunft nur Sekundarschullehrer für den ganzen Bereich der Sekundarstufe, von der Polytechnischen Schule über die berufsbildenden niederen, mittleren und höheren Schulen bis hin zur AHS-Langform, ausgebildet werden. Da die Curricula für die Sekundarlehrerausbildung nur in Kooperation Pädagogischen Hochschulen mit den Universitäten erstellt werden dürfen, ist zu erwarten, dass sich die bisher auf die Ausbildung von Oberstufenlehrern ausgerichtete universitäre Lehrerbildung programmatisch durchsetzen wird. Andernfalls wäre ja ein Verlust an fachwissenschaftlicher Kompetenz nicht zu vermeiden.
Für die Zukunft ist zu erwarten, dass es Fortschritte in Richtung einer Gesamtschule für die Sekundarstufe I geben wird. Die vorliegende Organisationsform der Neuen Mittelschule wird dazu nicht geeignet sein. Es müssen Strukturen gefunden werden, welche die Selektionsaufgabe besser erfüllen können. Leistungsforderung und Leistungsförderung müssen verbessert werden, transparente Differenzierungsformen sind einzurichten. Sollte allerdings ein Bildungspflicht bis zum 18. Lebensjahr eingeführt werden, besteht die Möglichkeit, aus der Polytechnischen Schule eine Grund- und Orientierungsstufe der Berufsschule zu machen. In der Lehrerbildung wird eine neuerliche Reform in Richtung der „PädagogInnenbildung Neu“ notwendig sein.