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Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit – Wortspiele oder Gesellschaftspolitik?
Hans Günter Rolff / Klaus Klemm

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Chancengleichheit war Ende der sechziger Jahre der zentrale Orientierungspunkt aller Reformbemühungen im Bildungsbereich. An ihr wurde jeder Vorschlag und jede Maßnahme gemessen. Das galt für die Auslese der Schüler wie für die Curriculumreform, die ein gemeinsames Fundamentum vermitteln sollte. Das galt für Maßnahmen der Differenzierung und Durchlässigkeit der Lernorganisation wie für Anstrengungen zur Integration sowohl der Schulformen der Sekundarstufe I wie der Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung in der Sekundarstufe II. Die Dominanz des Begriffs der Chancengleichheit ist mittlerweile vorbei. Heute  ist Chancengerechtigkeit die Leitkategorie.

Versucht man ein Fazit aus der lang anhaltenden Debatte um Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit zu ziehen, wird man zuerst einmal feststellen, dass es dabei nicht nur um Wortgefechte ging und geht, sondern um die Durchsetzung bzw. Festigung konkreter, sich deutlich unterscheidenden Konzepten von Gesellschaftspolitik: Die einen wollen statistisch belegte Ungleichheiten so weit wie möglich mindern, die andern wollen die bestehende Ungleichheit zwar nicht in trivialer Weise legitimieren, aber unter den unterschiedlichsten Kriterien von Gerechtigkeit betrachtet wissen, was durchaus Umverteilungen meinen kann, aber auch Befestigung der Umstände durch ansprechende Begründungen. Diese deutlich unterschiedlichen Positionen waren und sind nicht durchweg parteipolitisch gebunden, sondern kommen häufig in ein und derselben Partei vor. Aber Unterschiede bleiben: Mehr Chancengleichheit ist    ein gesellschaftspolitisches Konzept (vgl. z.B. Piketty 2014), das Ungleichheit abbauen und Bildung vermehren will; Chancengerechtigkeit ist ein zivilgesellschaftliches Projekt, das mit Ungleichheit fair umgehen und Bildung  anforderungsgemäß verteilen will.

Auch im 21. Jahrhundert ist die Verteilung von Chancen im und durch das Bildungssystem – empirisch durch belastbare Daten belegt – im hohen Ausmaß durch die individuelle Herkunft geprägt und hinsichtlich der individuell im Bildungssystem erbrachten Leistungen alles andere als gerecht. Angesichts dieser Befunde lässt sich feststellen: Wer von Chancengerechtigkeit im Bildungssystem spricht, ohne sich mit den empirischen Befunden auseinandergesetzt zu haben, überspringt die Wirklichkeit: Ohne Chancengleichheit kann es keine Chancengerechtigkeit geben.

H.G. Rolff

Der obenstehende Text ist eine Zusammenstellung von Zitaten durch die Redaktion der „bpag“. Den kompletten Artikel finden Sie im Menüpunkt „Archiv“ (untere Menü-Zeile) unserer Website.