Hundert Jahre Streit um die Gesamtschule in der Mittelstufe des Schulsystems – Von der Vorreiterrolle zur Rückständigkeit
Artikel druckenNun ist es gewiss: Es wird 2020 keine gemeinsame Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen geben. Die Sozialdemokraten haben dieses Ziel bereits aufgegeben. Die Forderung der allgemeinen Mittelschule als Gesamtschule findet sich weder im neuen Parteiprogramm noch scheint sie im Plan A des Parteivorsitzenden auf. Nun sind auch die letzten Verfechter dieses bildungspolitischen Ziels, die Grünen, aus dem Nationalrat ausgeschieden.
Es gab viele Anläufe in diesen hundert Jahren. Und es gab mehrere Kompromisse, bei denen es den Konservativen gelang, den Übergang zu einer allgemeinen Mittelschule zu verhindern. In der Reformabteilung des Unterrichtsministeriums wurden von O. Glöckel und seinem Team 1920 die „Leitsätze für den allgemeinen Aufbau der Schulen“ mit einer Gesamtschule für die Schulstufen fünf bis acht erarbeitet. Sie konnten auf Vorläufer aus der Monarchie aufbauen: die vierklassige Unterstufe der österreichischen Mittelschulen Gymnasium und Realschule aus 1849 und auf die dreiklassige Bürgerschule als Pflichtschule nach dem Reichsvolksschulgesetz 1868. Auf der Grundlage der „Leitsätze“ wurden 1922 Schulversuche mit der Allgemeinen Mittelschule für die Schulstufen 5 bis 8 in Wien gestartet. Sie bewährten sich und sollten 1926 ausgebaut werden. Es kam jedoch zum ersten schulpolitischen Kompromiss 1927: Hauptschulgesetz (Hauptschule: Pflichtschule als Gesamtschule mit zwei Klassenzügen) – Mittelschulgesetz (Gymnasium, Realgymnasium und Realschule mit einer vierstufigen Unterstufe als schulgeldpflichtige Wahlschule) – Lehrplanakkordierung als Grundlage der Durchlässigkeit mit guten Gesamterfolg.
Im autoritären Ständestaat wurde 1934 das System zerschlagen. Der zweite Klassenzug der Hauptschule wurde durch die Volksschuloberstufe ersetzt. Unterschiedliche Lehrpläne in den Mittelschulen und in der Hauptschule schafften die Durchlässigkeit ab. 1945 wurde auf die gesetzlichen Regelungen von 1927 zurückgegriffen, der Zweite Klassenzug wurde trotzdem nur schrittweise eingeführt. 1962 wurden aus den Mittelschulen die Allgemeinbildenden höheren Schulen, die Hauptschulen blieben gleich. Durch die Einführung der Oberstufenrealgymnasien und den Ausbau der Berufsbildenden höheren Schulen wurde der Gesamtschulcharakter der Hauptschulen als Zubringer betont. Von 1971 bis 1983 wurden Schulversuche mit Gesamtschulen geführt und ihr Erfolg durch die Vergleichsforschung evaluiert. Die wissenschaftlich nicht mehr begründbare Leistungsdifferenzierung durch Klassenzüge wurde durch eine Kombination von heterogenen Stammklassen (in den Realien und den, musischen Fächern) und fachspezifisch zusammengesetzten Leistungsgruppen auf drei Leistungsniveaus (in Deutsch, Englisch und Mathematik) ersetzt. Da die ÖVP 1983 die Fortsetzung der Schulversuche verweigerte, folgte der zweite schulpolitische Kompromiss: Die erprobte und bewährte Gesamtschulstruktur wurde nur in der Hauptschule eingeführt. Die Lehrpläne von Hauptschulen und Unterstufen der höheren Schulen wurden übereinstimmend gestaltet. Das obere Leistungsniveau (Erste Leistungsgruppe) der Hauptschule entsprach dem Leistungsniveau der AHS.-Unterstufe und sicherte einen prüfungsfreien Übertritt in höhere Schulen.
2008 wollte die schulgeschichtlich unbedarfte Unterrichtsministerin Dr. Schmied eine Neue Mittelschule als Gesamtschule einführen. Die ÖVP blockte erwartungsgemäß die vorgesehene Novellierung des Schulorganisationsgesetzes ab und ließ nur. wissenschaftlich begleitete Schulversuche mit der Neuen Mittelschule zu. Die Modellentwicklung wurde den Bundesländern überlassen, Ziel war die Abschaffung der Leistungsgruppen. Die Schulversuche wurden 2012 abgebrochen. Die Unterrichtsministerin strebte einen raschen schulpolitischen Erfolg an und handelte ohne Zwang oder Notwendigkeit mit der ÖVP den dritten Kompromiss bezüglich der Mittelstufe des Schulsystems aus. Die Hauptschule wurde durch die Neue Mittelschule ersetzt, die Weiterbestand der AHS-Unterstufe wurde anerkannt. Ohne Diskussion der Bundesländermodelle wurde die Organisationsform der Neuen Mittelschule festgelegt: Unterricht in allen Unterrichtsfächern in leistungsheterogenen Klassenverbänden mit zeitweiligem Zweilehrersystem. In der siebenten und achten Schulstufe wird durch innere Differenzierung in den Sprachen und in der Mathematik zwischen Schülern mit grundlegender oder vertiefter Allgemeinbildung unterschieden. Diese Differenzierung ist jedoch weitgehend intransparent und entwickelt keine Leistungsmotivation. Die Neue Mittelschule kann daher einem Gesamtschulanspruch nicht mehr gerecht werden. Sie entwickelt sich zum zweiten Klassenzug des Schulsystems, dem die Aufgaben der Inklusion (Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf) und Integration (Schüler mit Migrationshintergrund) übertragen werden. Im großstädtischen Bereich wird die AHS-Unterstufe zur Quasi-Gesamtschule ohne Leistungsdifferenzierung für Kinder mit deutscher Muttersprache und bildungsinteressierten Eltern.
Das Fehlen einer Schulform mit Gesamtschulcharakter ist für das Schulsystem fatal. Es ist nicht bildungschancengerecht und produziert eine erhebliche Anzahl von Schülern mit Leseschwäche und Rechenmängeln, wie die PISA-Untersuchungen immer wieder beweisen. Die Messungen der Bildungsstandards konzentrieren sich außerdem auf Deutsch, Englisch und Mathematik und drängen die anderen Fächer zurück, welche Natur, Kultur und Gesellschaft erschließen. Integrationsleistungen kann nur ein Schulsystem erbringen, welches die Sozialstruktur der Gesellschaft abbildet, in welche es zu integrieren gilt.
Vor einigen Jahren konnte man hinsichtlich der Entwicklung zu gemeinsamen Schule für alle Zehn- bis Vierzehnjährigen noch sagen: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Nun ist sie leider tot.
H.S.